Mittwoch, 18. Januar 2012

San Francisco — ein Zustandsbericht



Die San Franciscans sind nervös geworden. Mit dem Niedergang vieler dot.coms hat Weltuntergangsstimmung eingesetzt. Plötzlich gibt es leerstehende Büroräume en masse, die Vier-Sterne-Lokale haben die Preise reduziert und die Mieten sind auch auf Talfahrt. Nie gab es mehr Obdachlose wie zuvor.

Die Gestrandeten aus dem nahegelegenen Silicon Valley suchen billigen Wohnraum, meist in unattraktiven Stadtvierteln, und probieren das Weiterleben. Beliebt ist das Latino-Viertel The Mission, wo die Cantina an der Ecke noch nahrhaftes Fast Food zum Sattwerden bietet. Wie sagt man doch in San Francisco: Ein Kreativer mit Laptop fällt immer wieder auf die Beine. An dem Spruch ist was dran. Die Stadt hatte immer schon enormes Potenzial zur Innovation. In San Francisco waren Trends wie die Farbe Pink und pan-asiatisches Essen bereits out, als sie woanders gerade gepriesen wurden. Hier wurden Gap, Banana Republic und das 3-D-Studio von George Lucas aus der Taufe gehoben. Und den Computerfreaks war ein Feinschmeckeressen immer schon egal.

Ein Wandel im Denken durchzieht breite Schichten der Bevölkerung. Die angeberische Prahlerei, San Francisco, City Beautiful, sei die schönste und lebenswerteste Stadt der USA, scheint vielen plötzlich fehl am Platze. Die schlechte Wirtschaft kann jeden treffen. Dieses Bewußtsein reicht aus, um sich endlich wieder auf einfach Dinge zu besinnen. Da war doch ein Coffee Shop an der Ecke, wo nicht Starbucks drüberstand.

Wer auf Entdeckungsreise geht, die Seele der Stadt sucht, kann das jetzt besser denn jeh. Die Schwächen San Franciscos liegen bloß, aber auch der Charme, die versteckte Schönheit. Nicht am Union Square, wo schon wieder gefeilt und geputzt wird. In den Stadtteilen. Ach ja, die neighborhoods von San Francisco: hier wohnen die Teile des Puzzles, aus denen sich die Seele der Stadt zusammensetzen läßt. Es wird ja gerne behauptet, San Francisco sei unamerikanisch oder gar europäisch. Das liegt an den weltoffenen Menschen, den verschiedenen Kulturen und Lebensstilen die hier gepflegt und toleriert werden: Asiaten aus China, Vietnam, Japan, den Philippinen. Latinos aus ganz Südamerika, Immigranten aus dem ehemaligen Ostblock, Sikhs aus Indien. Schwule und Lesben gehören nicht nur zum Straßenbild, sie sitzen auch in den höchsten Ämtern der Stadtverwaltung und bilden einen einflußreichen Teil der politischen Elite.

Als kosmopolitischer Treff für globetrottende Trendsetter hat San Francisco gute Karten. Dabei helfen beste Voraussetzungen: Weltoffenheit, kulturelle Vielfalt. Zur Zeit tüfteln die Geeks aus Silicon Valley im Multimedia-Gulch rund um den South Park an High-tech-Neuheiten für die nächsten fünfzig Jahre. Und in den kleinen Modeateliers werden Kreationen aus nie gekannten Materialien geschneidert. Mal sehen, was dabei herauskommt.